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URTEIL DES GERICHTSHOFES

7. November 2000 (1)

Richtlinie 92/43/EWG - Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen - Abgrenzung von Gebieten, die als besondere Schutzgebiete ausgewiesen werden könnten - Ermessen der Mitgliedstaaten - Wirtschaftliche und soziale Erwägungen - Mündungsgebiet des Severn

In der Rechtssache C-371/98

betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG) vom High Court of Justice (England & Wales), Queen's Bench Division (Divisional Court) (Vereinigtes Königreich), in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit

The Queen

gegen

Secretary of State for the Environment, Transport and the Regions,

ex parte: First Corporate Shipping Ltd,

Beteiligte:

World Wide Fund for Nature UK (WWF)

und

Avon Wildlife Trust,

vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung von Artikel 2 Absatz 3 und Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (ABl. L 206, S. 7)

erlässt

DER GERICHTSHOF

unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodríguez Iglesias, der Kammerpräsidenten C. Gulmann (Berichterstatter), M. Wathelet und V. Skouris sowie der Richter D. A. O. Edward, J.-P. Puissochet, P. Jann, L. Sevón und R. Schintgen

Generalanwalt: P. Léger


Kanzler: H. A. Rühl, Hauptverwaltungsrat

unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen

-der First Corporate Shipping Ltd, vertreten durch G. Barling, QC, und die Barrister M. Shaw und M. Hoskins, beauftragt durch Arnheim Tite & Lewis, Solicitors,

-des World Wide Fund for Nature UK (WWF) und des Avon Wildlife Trust, vertreten durch die Barrister P. Sands und J. H. Marks, beauftragt durch Leigh Day & Co., Solicitors,

-der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch Assistant Treasury Solicitor J. E. Collins als Bevollmächtigten im Beistand von R. Drabble, QC,

-der finnischen Regierung, vertreten durch H. Rotkirch und T. Pynnä, Valtionasiamiehet, als Bevollmächtigte,

-der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch R. B. Wainwright, Hauptrechtsberater, und P. Stancanelli, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte,

aufgrund des Sitzungsberichts,

nach Anhörung der mündlichen Ausführungen der First Corporate Shipping Ltd, des World Wide Fund for Nature UK (WWF) und der Avon Wildlife Trust, der Regierung des Vereinigten Königreichs, der finnischen Regierung und der Kommission in der Sitzung vom 7. Dezember 1999,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. März 2000,

folgendes

Urteil

1.
Der High Court of Justice (England & Wales), Queen's Bench Division (Divisional Court), hat mit Beschluss vom 21. Juli 1998, beim Gerichtshof eingegangen am 16. Oktober 1998, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG) eine Frage nach der Auslegung von Artikel 2 Absatz 3 und Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (ABl. L 206, S. 7; nachstehend: Habitatrichtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2.
Diese Frage stellt sich im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der First Corporate Shipping Ltd (nachstehend: Klägerin) und dem Secretary of State for the Environment, Transport and the Regions (Minister für Umwelt, Verkehr und die Regionen; nachstehend: Beklagter) wegen eines Rechtsakts, mit dem der Beklagte seine Absicht bekundet hatte, der Kommission der Europäischen Gemeinschaften das Mündungsgebiet des Severn als Gebiet vorzuschlagen, das als besonderes Schutzgebiet nach Artikel 4 Absatz 1 der Habitatrichtlinie ausgewiesen werden könnte.

Gemeinschaftsrecht

3.
Artikel 2 der Habitatrichtlinie bestimmt:

(1)Diese Richtlinie hat zum Ziel, zur Sicherung der Artenvielfalt durch die Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten, für das der Vertrag Geltung hat, beizutragen.

(2)Die aufgrund dieser Richtlinie getroffenen Maßnahmen zielen darauf ab, einen günstigen Erhaltungszustand der natürlichen Lebensräume und wildlebenden Tier- und Pflanzenarten von gemeinschaftlichem Interesse zu bewahren oder wiederherzustellen.

(3)Die aufgrund dieser Richtlinie getroffenen Maßnahmen tragen den Anforderungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur sowie den regionalen und örtlichen Besonderheiten Rechnung.

4.
Artikel 4 der Habitatrichtlinie bestimmt:

(1)Anhand der in Anhang III (Phase 1) festgelegten Kriterien und einschlägiger wissenschaftlicher Informationen legt jeder Mitgliedstaat eine Liste von Gebieten vor, in der die in diesen Gebieten vorkommenden natürlichen Lebensraumtypen des Anhangs I und einheimischen Arten des Anhangs II aufgeführt sind. Bei Tierarten, die große Lebensräume beanspruchen, entsprechen diese Gebiete den Orten im natürlichen Verbreitungsgebiet dieser Arten, welche die für ihr Leben und ihre Fortpflanzung ausschlaggebenden physischen und biologischen Elemente aufweisen. Für im Wasser lebende Tierarten, die große Lebensräume beanspruchen, werden solche Gebiete nur vorgeschlagen, wenn sich ein Raum klar abgrenzen lässt, der die für das Leben und die Fortpflanzung dieser Arten ausschlaggebenden physischen und biologischen Elemente aufweist. Die Mitgliedstaaten schlagen gegebenenfalls die Anpassung dieser Liste im Lichte der Ergebnisse der in Artikel 11 genannten Überwachung vor.

Binnen drei Jahren nach der Bekanntgabe dieser Richtlinie wird der Kommission diese Liste gleichzeitig mit den Informationen über die einzelnen Gebiete zugeleitet. Diese Informationen umfassen eine kartographische Darstellung des Gebietes, seine Bezeichnung, seine geographische Lage, seine Größe sowie die Daten, die sich aus der Anwendung der in Anhang III (Phase 1) genannten Kriterien ergeben, und werden anhand eines von der Kommission nach dem Verfahren des Artikels 21 ausgearbeiteten Formulars übermittelt.

(2)Auf der Grundlage der in Anhang III (Phase 2) festgelegten Kriterien und im Rahmen der fünf in Artikel 1 Buchstabe c) Ziffer iii) erwähnten biogeographischen Regionen sowie des in Artikel 2 Absatz 1 genannten Gesamtgebietes erstellt die Kommission jeweils im Einvernehmen mit den Mitgliedstaaten aus den Listen der Mitgliedstaaten den Entwurf einer Liste der Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung, in der die Gebiete mit einem oder mehreren prioritären natürlichen Lebensraumtyp(en) oder einer oder mehreren prioritären Art(en) ausgewiesen sind.

Die Mitgliedstaaten, bei denen Gebiete mit einem oder mehreren prioritären natürlichen Lebensraumtyp(en) und einer oder mehreren prioritären Art(en) flächenmäßig mehr als 5 v. H. des Hoheitsgebiets ausmachen, können im Einvernehmen mit der Kommissionbeantragen, dass die in Anhang III (Phase 2) angeführten Kriterien bei der Auswahl aller in ihrem Hoheitsgebiet liegenden Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung flexibler angewandt werden.

Die Liste der Gebiete, die als Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung ausgewählt wurden und in der die Gebiete mit einem oder mehreren prioritären natürlichen Lebensraumtyp(en) oder einer oder mehreren prioritären Art(en) ausgewiesen sind, wird von der Kommission nach dem Verfahren des Artikels 21 festgelegt.

(3)Die in Absatz 2 erwähnte Liste wird binnen sechs Jahren nach Bekanntgabe dieser Richtlinie erstellt.

(4)Ist ein Gebiet aufgrund des in Absatz 2 genannten Verfahrens als Gebiet von gemeinschaftlicher Bedeutung bezeichnet worden, so weist der betreffende Mitgliedstaat dieses Gebiet so schnell wie möglich - spätestens aber binnen sechs Jahren - als besonderes Schutzgebiet aus und legt dabei die Prioritäten nach Maßgabe der Wichtigkeit dieser Gebiete für die Wahrung oder die Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustandes eines natürlichen Lebensraumtyps des Anhangs I oder einer Art des Anhangs II und für die Kohärenz des Netzes Natura 2000 sowie danach fest, inwieweit diese Gebiete von Schädigung oder Zerstörung bedroht sind.

(5)Sobald ein Gebiet in die Liste des Absatzes 2 Unterabsatz 3 aufgenommen ist, unterliegt es den Bestimmungen des Artikels 6 Absätze 2, 3 und 4.

5.
Anhang III der Habitatrichtlinie lautet:

KRITERIEN ZUR AUSWAHL DER GEBIETE, DIE ALS GEBIETE VON GEMEINSCHAFTLICHER BEDEUTUNG BESTIMMT UND ALS BESONDERE SCHUTZGEBIETE AUSGEWIESEN WERDEN KÖNNTEN

PHASE 1:Für jeden natürlichen Lebensraumtyp des Anhangs I und jede Art des Anhangs II (einschließlich der prioritären natürlichen Lebensraumtypen und der prioritären Arten) auf nationaler Ebene vorzunehmende Beurteilung der relativen Bedeutung der Gebiete

A.Kriterien zur Beurteilung der Bedeutung des Gebietes für einen natürlichen Lebensraumtyp des Anhangs I

a)Repräsentativitätsgrad des in diesem Gebiet vorkommenden natürlichen Lebensraumtyps.

b)Vom natürlichen Lebensraumtyp eingenommene Fläche im Vergleich zur Gesamtfläche des betreffenden Lebensraumtyps im gesamten Hoheitsgebiet des Staates.

c)Erhaltungsgrad der Struktur und der Funktionen des betreffenden natürlichen Lebensraumtyps und Wiederherstellungsmöglichkeit.

d)Gesamtbeurteilung des Wertes des Gebietes für die Erhaltung des betreffenden natürlichen Lebensraumtyps.

B.Kriterien zur Beurteilung der Bedeutung des Gebiets für eine gegebene Art des Anhangs II

a)Populationsgröße und -dichte der betreffenden Art in diesem Gebiet im Vergleich zu den Populationen im ganzen Land.

b)Erhaltungsgrad der für die betreffende Art wichtigen Habitatselemente und Wiederherstellungsmöglichkeit.

c)Isolierungsgrad der in diesem Gebiet vorkommenden Population im Vergleich zum natürlichen Verbreitungsgebiet der jeweiligen Art.

d)Gesamtbeurteilung des Wertes des Gebietes für die Erhaltung der betreffenden Art.

C.Anhand dieser Kriterien stufen die Mitgliedstaaten die Gebiete, die sie mit der nationalen Liste vorschlagen, als Gebiete ein, die aufgrund ihres relativen Werts für die Erhaltung jedes/jeder der in Anhang I bzw. II genannten natürlichen Lebensraumtypen bzw. Arten als Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung bestimmt werden könnten.

D.In dieser Liste werden die Gebiete aufgeführt, die die prioritären natürlichen Lebensraumtypen und Arten beherbergen, die von den Mitgliedstaaten anhand der Kriterien der Abschnitte A und B ausgewählt wurden.

...

6.
Artikel 6 Absätze 2, 3 und 4 der Habitatrichtlinie bestimmt:

(2) Die Mitgliedstaaten treffen die geeigneten Maßnahmen, um in den besonderen Schutzgebieten die Verschlechterung der natürlichen Lebensräume und der Habitate der Arten sowie Störungen von Arten, für die die Gebiete ausgewiesen worden sind, zu vermeiden, sofern solche Störungen sich im Hinblick auf die Ziele dieser Richtlinie erheblich auswirken könnten.

(3)Pläne oder Projekte, die nicht unmittelbar mit der Verwaltung des Gebietes in Verbindung stehen oder hierfür nicht notwendig sind, die ein solches Gebiet jedoch einzeln oder in Zusammenwirkung mit anderen Plänen und Projekten erheblich beeinträchtigen könnten, erfordern eine Prüfung auf Verträglichkeit mit den für dieses Gebiet festgelegten Erhaltungszielen. Unter Berücksichtigung der Ergebnisse derVerträglichkeitsprüfung und vorbehaltlich des Absatzes 4 stimmen die zuständigen einzelstaatlichen Behörden dem Plan bzw. Projekt nur zu, wenn sie festgestellt haben, dass das Gebiet als solches nicht beeinträchtigt wird, und nachdem sie gegebenenfalls die Öffentlichkeit angehört haben.

(4)Ist trotz negativer Ergebnisse der Verträglichkeitsprüfung aus zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses einschließlich solcher sozialer oder wirtschaftlicher Art ein Plan oder Projekt durchzuführen und ist eine Alternativlösung nicht vorhanden, so ergreift der Mitgliedstaat alle notwendigen Ausgleichsmaßnahmen, um sicherzustellen, dass die globale Kohärenz von Natura 2000 geschützt ist. Der Mitgliedstaat unterrichtet die Kommission über die von ihm ergriffenen Ausgleichsmaßnahmen.

Ist das betreffende Gebiet ein Gebiet, das einen prioritären natürlichen Lebensraumtyp und/oder eine prioritäre Art einschließt, so können nur Erwägungen im Zusammenhang mit der Gesundheit des Menschen und der öffentlichen Sicherheit oder im Zusammenhang mit maßgeblichen günstigen Auswirkungen für die Umwelt oder, nach Stellungnahme der Kommission, andere zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses geltend gemacht werden.

Ausgangsrechtsstreit und Vorabentscheidungsfrage

7.
Die Klägerin ist die gesetzlich errichtete Hafenbehörde für den Hafen von Bristol (Vereinigtes Königreich), der im Mündungsgebiet des Severn liegt; sie ist Eigentümerin zahlreicher Grundstücke im Hafengebiet. Seit sie den Hafen erwarb, investierte sie zusammen mit Partnern etwa 220 Millionen GBP Kapital in den Ausbau der Hafeneinrichtungen. Sie beschäftigt 495 fest angestellte Vollzeitmitarbeiter. Die Zahl der im Hafen tätigen Arbeitnehmer einschließlich der Beschäftigten der Klägerin wird auf 3 000 bis 5 000 geschätzt.

8.
Der Beklagte bekundete seine Absicht, der Kommission der Europäischen Gemeinschaften das Mündungsgebiet des Severn als Gebiet vorzuschlagen, das als besonderes Schutzgebiet nach Artikel 4 Absatz 1 der Habitatrichtlinie ausgewiesen werden könnte, da die Gezeitenzonen dieses Gebiets bereits zum überwiegenden Teil als besonderes Schutzgebiet nach der Richtlinie 79/409/EWG des Rates vom 2. April 1979 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten (ABl. 1979, L 103, S. 1) eingestuft waren. Die Klägerin stellte daraufhin beim High Court of Justice (England & Wales), Queen's Bench Division (Divisional Court), Antrag auf Zulassung der Klage.

9.
Vor diesem Gericht machte die Klägerin geltend, der Beklagte sei nach Artikel 2 Absatz 3 der Habitatrichtlinie verpflichtet, den Anforderungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur Rechnung zu tragen, wenn er darüber entscheide, welche Gebiete der Kommission nach Artikel 4 Absatz 1 dieser Richtlinie vorgeschlagen werden sollten.

10.
Der Beklagte erwiderte, angesichts der Ausführungen im Urteil des Gerichtshofes vom 11. Juli 1996 in der Rechtssache C-44/95 (Regina/Secretary of State for the Environment, ex parte: Royal Society for the Protection of Birds, Slg. 1996, I-3805) sei er bei der Entscheidung darüber, welche Gebiete der Kommission nach Artikel 4 Absatz 1 der Habitatrichtlinie vorgeschlagen werden sollten, nicht befugt, Anforderungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur Rechnung zu tragen.

11.
Der High Court of Justice (England & Wales), Queen's Bench Division (Divisional Court), hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Kann oder muss ein Mitgliedstaat den in Artikel 2 Absatz 3 der Richtlinie 92/43/EWG des Rates zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (ABl. 1992, L 206, S. 7) genannten Erwägungen, d. h. den Anforderungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur sowie den regionalen und örtlichen Besonderheiten, Rechnung tragen, wenn er darüber entscheidet, welche Gebiete er der Kommission nach Artikel 4 Absatz 1 dieser Richtlinie vorschlagen soll, und/oder wenn er die Grenzen dieser Gebiete festlegt?

Zur Vorabentscheidungsfrage

12.
Die zur Vorabentscheidung vorgelegte Auslegungsfrage betrifft nur die Phase 1 des Verfahrens zur Einstufung von Gebieten als besondere Schutzgebiete im Sinne des Artikels 4 Absatz 1 der Habitatrichtlinie.

13.
Dort ist vorgesehen, dass jeder Mitgliedstaat anhand der in Anhang III (Phase 1) festgelegten Kriterien und einschlägiger wissenschaftlicher Informationen eine Liste von Gebieten vorlegt, in der die in diesen Gebieten vorkommenden natürlichen Lebensraumtypen des Anhangs I und einheimischen Arten des Anhangs II aufgeführt sind, und diese Liste der Kommission zuleitet.

14.
In Anhang III der Habitatrichtlinie - Kriterien zur Auswahl der Gebiete, die als Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung bestimmt und als besondere Schutzgebiete ausgewiesen werden könnten - sind für die Phase 1 für jeden natürlichen Lebensraumtyp des Anhangs I und jede einheimische Art des Anhangs II Kriterien für die auf nationaler Ebene vorzunehmende Beurteilung der relativen Bedeutung der Gebiete aufgeführt.

15.
Diese Beurteilungskriterien beziehen sich ausschließlich auf das Ziel der Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen, die in den Anhängen I oder II aufgeführt sind.

16.
Folglich sieht Artikel 4 Absatz 1 der Habitatrichtlinie für sich genommen nicht vor, dass andere Anforderungen als die zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen zu beachten sind, wenn über die Auswahl undAbgrenzung der Gebiete entschieden wird, die der Kommission zur Bestimmung als Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung vorgeschlagen werden sollen.

17.
Die Klägerin macht geltend, die Bestimmung und Abgrenzung der Gebiete, die der Kommission gemäß Artikel 4 Absatz 1 der Habitatrichtlinie zur Ausweisung als besondere Schutzgebiete vorzuschlagen seien, stelle eine aufgrund dieser Richtlinie getroffene Maßnahme im Sinne des Artikels 2 Absatz 3 dar. Daher sei ein Mitgliedstaat nach Artikel 2 Absatz 3 verpflichtet, den Anforderungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur sowie den regionalen und örtlichen Besonderheiten Rechnung zu tragen, wenn er die Kriterien in Anhang III der Richtlinie anwende, um die der Kommission vorzulegende Liste der Gebiete aufzustellen.

18.
Nach Auffassung der finnischen Regierung kann ein Mitgliedstaat, wenn er die Gebiete auflistet, die der Kommission vorgeschlagen werden sollen, den Anforderungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur sowie den regionalen und örtlichen Besonderheiten Rechnung tragen, soweit damit nicht die Verwirklichung der Naturschutzziele der Habitatrichtlinie beeinträchtigt wird. Es könne zum Beispiel im Gebiet eines Mitgliedstaats so viele Gebiete geben, die als Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung in Betracht kämen, dass dieser Mitgliedstaat berechtigt sei, einige davon nicht in seine Vorschlagsliste aufzunehmen, ohne damit die Verwirklichung dieser Ziele zu gefährden.

19.
Artikel 3 Absatz 1 Unterabsatz 1 der Habitatrichtlinie sieht die Errichtung eines kohärenten europäischen ökologischen Netzes besonderer Schutzgebiete mit der Bezeichnung Natura 2000 vor, das aus Gebieten besteht, die die natürlichen Lebensraumtypen des Anhangs I sowie die Habitate der Arten des Anhangs II umfassen, und den Fortbestand oder gegebenenfalls die Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustands dieser natürlichen Lebensraumtypen und Habitate der Arten in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet gewährleisten muss.

20.
Überdies sieht Artikel 4 der Habitatrichtlinie zur Einstufung von Gebieten als besondere Schutzgebiete ein Verfahren vor, das in mehrere Phasen gegliedert ist, an die jeweils bestimmte rechtliche Wirkungen geknüpft sind; dieses Verfahren soll, wie sich aus Artikel 3 Absatz 2 der Richtlinie ergibt, insbesondere die Verwirklichung des Netzes Natura 2000 ermöglichen.

21.
Insbesondere hat die Kommission nach Artikel 4 Absatz 2 Unterabsatz 1 der Richtlinie im Einvernehmen mit den Mitgliedstaaten aus den Listen der Mitgliedstaaten einen Entwurf einer Liste der Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung zu erstellen.

22.
Um einen Entwurf einer Liste der Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung zu erstellen, der zur Errichtung eines kohärenten europäischen ökologischen Netzes besonderer Schutzgebiete führen kann, muss die Kommission über ein umfassendes Verzeichnis der Gebiete verfügen, denen auf nationaler Ebene erhebliche ökologische Bedeutung für das Ziel der Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie derwildlebenden Tiere und Pflanzen im Sinne der Habitatrichtlinie zukommt. Zu diesem Zweck wird dieses Verzeichnis anhand der in Anhang III (Phase 1) der Richtlinie festgelegten Kriterien erstellt.

23.
Nur auf diese Weise ist das in Artikel 3 Absatz 1 Unterabsatz 1 der Habitatrichtlinie gesetzte Ziel der Wahrung oder Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustands dieser natürlichen Lebensraumtypen und Habitate der Arten in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet, das sich über eine oder mehrere Binnengrenzen der Gemeinschaft erstrecken kann, zu erreichen. Wie sich nämlich aus Artikel 1 Buchstaben e und i in Verbindung mit Artikel 2 Absatz 1 der Richtlinie ergibt, ist für die Beurteilung des Erhaltungszustands eines natürlichen Lebensraums oder einer Art auf das gesamte europäische Gebiet der Mitgliedstaaten, für das der EG-Vertrag Geltung hat, abzustellen. Angesichts der Tatsache, dass ein Mitgliedstaat, wenn er die nationale Liste der Gebiete erstellt, nicht genau und im Einzelnen wissen kann, wie die Situation der Habitate in den anderen Mitgliedstaaten ist, kann er nicht von sich aus wegen Anforderungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur oder wegen regionaler und örtlicher Besonderheiten Gebiete ausnehmen, denen auf nationaler Ebene erhebliche ökologische Bedeutung für das Ziel der Erhaltung zukommt, ohne damit die Verwirklichung dieses Ziels auf Gemeinschaftsebene zu gefährden.

24.
Könnten die Mitgliedstaaten bei der Auswahl und Abgrenzung der Gebiete, die in die gemäß Artikel 4 Absatz 1 der Habitatrichtlinie zu erstellende und der Kommission zuzuleitende Liste aufgenommen werden sollen, den Anforderungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur sowie den regionalen und örtlichen Besonderheiten Rechnung tragen, so hätte die Kommission insbesondere keine Gewissheit, dass sie über ein umfassendes Verzeichnis der als besondere Schutzgebiete in Betracht kommenden Gebiete verfügt, und das Ziel, aus diesen ein kohärentes europäisches ökologisches Netz zu errichten, würde möglicherweise verfehlt.

25.
Auf die Frage des vorlegenden Gerichts ist daher zu antworten, dass ein Mitgliedstaat nach Artikel 4 Absatz 1 der Habitatrichtlinie den Anforderungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur sowie den regionalen und örtlichen Besonderheiten, wie sie in Artikel 2 Absatz 3 dieser Richtlinie genannt sind, nicht Rechnung tragen darf, wenn er über die Auswahl und Abgrenzung der Gebiete entscheidet, die der Kommission zur Bestimmung als Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung vorgeschlagen werden sollen.

Kosten

26.
Die Auslagen der Regierung des Vereinigten Königreichs und der finnischen Regierung sowie der Kommission, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom High Court of Justice (England & Wales), Queen's Bench Division (Divisional Court), mit Beschluss vom 21. Juli 1998 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Nach Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen darf ein Mitgliedstaat den Anforderungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur sowie den regionalen und örtlichen Besonderheiten, wie sie in Artikel 2 Absatz 3 dieser Richtlinie genannt sind, nicht Rechnung tragen, wenn er über die Auswahl und Abgrenzung der Gebiete entscheidet, die der Kommission zur Bestimmung als Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung vorgeschlagen werden sollen.

Rodríguez Iglesias
Gulmann
Wathelet

Skouris

Edward
Puissochet

Jann

Sévon
Schintgen

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 7. November 2000.

Der Kanzler

Der Präsident

R. Grass

G. C. Rodríguez Iglesias


1: Verfahrenssprache: Englisch.